Foto: Armin Fischer

22.11.2023

Kreativ mit dem Kopfschreiber

RP vom 22.11.2023 von Uwe Plien

RHEINBERG Sabine Cremers hat es schwer. Sie ist von Geburt an schwerstbehindert, hat eine Tetra-spastik. Das bedeutet: Beide Arme und Beine sind gelähmt. Die kleine Frau sitzt zusammengekauert in einem Rollstuhl, rudert mit Armen und Händen und kann sich nur mit größter Mühe und kaum verständlich unterhalten.

Doch im Kopf ist die 61-Jährige klar. Und sie ist eine überaus kreative Schreiberin: Nun ist sie für einen selbstverfassten Beitrag ausgezeichnet worden. Sabine Cremers ist Preisträgerin eines vom gemein-nützigen Verein „Die Wortfinder“ ausgelobten Literaturwettbewerbs für Menschen mit vor allem geistigen Behinderungen und – in diesem Jahr erstmalig – demenziellen Erkrankungen. Das Thema des Wettbewerbs lautete „Gefühlsachter-bahn & Gedankenkarussell – Über das Fühlen und über das Denken“.

Mehr als 750 Autorinnen und Autoren aus Deutschland, Österreich und der Schweiz haben sich beteiligt. Eine fünfköpfige fachkundige Jury wählte aus den rund 1250 eingereichten Beiträgen die Preisträger aus. Herausgekommen ist eine bunte Mischung, die nachdenklich macht und den Leser staunen lässt, die erheitert und erfreut. Egal ob philosophische Betrachtungen über die Sehnsucht, experimentelle, zwischen Traum und Realität angesiedelte Sprachspielereien, Eifersuchts-Rap oder poetische Verse über das Hoffnung gebende Vögelchen Neffoh – von allem ist etwas dabei. Die Texte der Preisträger erscheinen in einem literarischen Wandkalender für das Jahr 2024. Der grafisch schön gestaltete Kalender mit dem Titel „Der Wind bläst auch ins Glück“ hat DIN-A4-Hochformat und enthält pro Woche ein Blatt mit einem oder mehreren Texten. Zeichnungen und Schriftbilder bereichern den Kalender.

Sabine Cremers hat über ihre Erlebnisse mit ihrem Dreirad geschrieben, mit dem sie sich als Kind fortbewegt hat. Der Text hat die Jury überzeugt. Einen Geld- oder Sachpreis bekommt die Autorin, die im Wohnheim der Dr.-Ulrich-Lange-Stiftung in Krefeld-Traar lebt und seit fast 40 Jahren in der Caritas-Werkstatt in Rheinberg arbeitet, nicht. Der Preis sei doch, dass ihr Text in dem Kalender erscheint, sagt sie. Für Sabine Cremers ist es ein echter Kraftakt, ihre Gedanken aufzuzeichnen. Sie kann nicht auf einer Tastatur tippen. Deshalb hat man ihr in den Caritas Wohn- und Werkstätten in Rheinberg einen Helm gebaut, der einem Fahrradhelm ähnelt – ein „Kopfschreiber“. Daran befestigt ist eine Stange, mit dem sie die Buchstaben auf der Tastatur erreichen kann. Über die Tastatur ist eine transparente Kunststoffabdeckung gelegt mit einem runden Loch über jeder einzelnen Taste. Dadurch wird verhindert, dass die Stange abrutscht und es Buchstabensalat gibt.

Im vergangenen Jahr war Sabine Cremers bereits im ebenfalls von den Wortfindern herausgegebenen Buch „Heraus mit den Sprachen“ vertreten. Ihre Gruppenleiterin Sabrina Brucks und Sozialpädagogin Lea Török vom Sozialen Dienst zeigen einen Ordner, der voll ist mit Beiträgen der 61-Jährigen. So schreibt sie etwa darüber, was ihr Heimat bedeutet: „Heimat ist für mich Familie, Freunde und wenn ich mich bei meinen Eltern geborgen fühle. Eine Liebesbeziehung ist es auch. Die langjährige Freundschaft zu meinem besten Freund ist für mich Heimat.“

Sabine Cremers sagt, sie schreibe jeden Tag, das erfülle sie. Ihr Gruppenleiter Klaus Schütz unterstützt sie sehr darin, denn sie ist die Einzige der mehr als 1200 Beschäftigten in den drei Caritas-Werkstätten (240 davon in Rheinberg), die kreativ schreibt. Und das erfolgreich.

INFO

Wo man den Kalender bestellen kann

Kontakt Der Kalender 2024 kostet 18 Euro (zzgl. Versandkosten). Bestellt werden kann er per Mail unter diewortfinder@t-online.de, Telefon 0521 560 950 30 oder unter Die Wortfinder, c/o Sabine Feldwieser, Bossestraße 9, 33615 Bielefeld. Weiter Informationen über den Verein findet man auf der Homepage: www.diewortfinder.com.

Verein Der gemeinnützige Verein „Die Wortfinder“ fördert die Literatur und das kreative Schreiben von besonderen Menschen und Menschen in besonderen Lebenslagen. Er verfolgt das Ziel einer gleichberechtigten Teilhabe aller am kulturellen Leben.